Kategorie: Allgemein

  • Während Fussballmeisterschaften geschehen seltsame Dinge.
    Einige schreibe ich mit.

    Samstag, 14. Juni.
    Facebook. „German national football team Players Podolski and Özil posing with armed paramilitary forces in #‎Brazil.“
    Kaum verwunderlich. Es wurden schliesslich nicht die größten Dichter und Denker, sondern die besten Fußballspieler nach Brasilien geschickt.

    Sonntag, 15. Juni.
    WM-Tag Vier, Facebook ist unbenutzbar geworden. Überall Fahnen und Begriffe wie „Schland“ oder „Fussie“.

    Im Pita-Laden. Ein älterer Herr in der Schlange vor mir scheint seltsam niedergeschlagen zu sein. Ungefragt klärt der Verkäufer auf: Der Alte ist Niederländer. Ich lächle verständnisvoll, ohne den geringsten Schimmer, was in dieser Situation eine angebrachte Reaktion wäre. Es geht um die WM, soviel ist klar, aber wie steht’s um die niederländische Mannschaft? Hat sie gegen die Lieblinge des Pita-Verkäufers gewonnen – oder umgekehrt? Auf wessen Seite soll ich mich stellen? Am Besten auf diejenige, die mir das Essen zubereitet.

    Montag, 16. Juni.
    Ich muss zu Fuss ein Public Viewing-Gebiet durchqueren. Kaum zu glauben, die schlimmsten Vorurteile werden bestätigt. Alle Hände hoch, Fliegerlied. Spuckefäden. Wir-sind-gekommen-um-was-zu-erleben-Gesichter.

    Dienstag, 17. Juni.
    7 Uhr 30 Uhr, die erste Meldung in den Radionachrichten lautet: „Fans feiern deutschen Auftakt-Sieg“. Ein zwölfstündiger Freudentaumel?

    17 Uhr 30 Uhr, ich habe Appetit auf Pringles. Der Discounter hat nur „WM-Editionen“ vorrätig. Samba, Chilli, Cheese, Ketchup, Flavour und wie sie alle heissen. Nun, dann heute keine Pringles für mich.

    Samstag, 21. Juni.
    Verstörter Anruf von einer Bekannten. Sie steckt in einer Umlandkneipe fest und musste erleben, wie der halbe Laden neben den Stühlen stand und die Nationalhymne mitschmetterte.

    Montag, 30. Juni.
    Im Dönerladen werde ich in ein Gespräch verwickelt. Der Mann hinter der Theke deutet mit der Zange auf seinen Kollegen: „Algerier“.
    Ich antworte: „Ah, ja!“
    „Aber ich bin für Deutsche.“
    Was soll man sagen, ohne zu lügen?
    „Der Bessere möge gewinnen.“
    Mein Gegenüber hält inne, zieht eine Braue hoch: „Wie?“
    Denk nach Guido, denk nach.

    Freitag, 4. Juli.
    Existieren eigentlich Zahlen, wie viele Verletzte es gibt, nur weil das Volk mit aller Gewalt zum Fussballgucken will? Kurz vor Sechs am Abend scheinen alle Verkehrsregeln ausser Kraft gesetzt.
    Eine gute Stunde später. Das Viertel ist menschenleer, bis auf eine handvoll Punks, die auf der Strasse Purzelbäume schlagen.

    Dienstag, 8. Juli.
    Vor dem Fenster gehen Böller hoch, soweit okay, nur heute ungewohnt früh. Katastrophengeil schalte ich zum Halbfinalspiel und sehe schmerzverzerrte Gesichter brasilianischer Fans in Grossaufnahme, während im Hintergrund ein Chor aus Deutschen brüllt: „Einer geht noch! Einer geht noch rein!“

    Wird vielleicht fortgesetzt.

  • Während Fussballmeisterschaften geschehen seltsame Dinge.
    Einige schreibe ich in den kommenden Wochen mit.

    Mittwoch, 21. Mai.
    Auf dem Boden der Zehnerpackung Milchschnitte liegt ein Faltblatt. Es entpuppt sich als „Unser Team“-Poster. Bei zwanzig Fussballern höre ich auf zu zählen. Was soll der Quatsch? Wie jeder weiss, besteht eine Mannschaft aus elf Spielern, vielleicht noch ein paar Zerquetschten für die Reservebank, aber mehr als zwanzig?
    Interessant ist auch, dass das Faltposter auf niemanden einzahlt, weder Milchschnitte- noch Ferrero-Logo sind abgebildet. Da war wohl die Begeisterung gross.

    Freitag, 30.Mai.
    Der Fernsehzeitschrift ist ein WM-Planer beigeheftet. Sicherheitshalber reisse ich ihn raus, damit er mich nicht stört, lege ihn jedoch nur zur Seite, weil er notfalls verrät, wann die Spiele stattfinden. Gut zu wissen bei der Abendplanung in diesem Sommer.

    Freitag, 6. Juni.
    Was muss ich lesen? Schwarz-rot-goldene Autofahnen sind out. Der neuste Schrei sind Stretchstoffe, die man über die komplette hintere Seitenscheibe zieht, um so „auf breiter Fläche Flagge“ zu zeigen. Irre. Igitt.
    Aus dem Briefkasten plumpst eine Bildzeitung. „24Mio! Högschde Auflage.“ Beim ersten Lesen gar nicht verstanden. Wahrscheinlich eine Anspielung auf den Dialekt eines mir nicht bekannten Fussballers.

    Samstag, 7. Juni.
    Tagesschau-Eilmeldung beim Mittagessen. Oje, was wohl passiert ist? „Reus fällt für die WM aus.“ Wer zum Teufel ist Reus? Ich höre zum ersten Mal von diesem Mann.
    Die Newsseiten schläfern mich mit der Info ein, dass die Fussball-Nationalmannschaft nach Brasilien unterwegs ist. Zum Glück nicht davon geträumt.

    Sonntag, 8. Juni.
    Die Deutschen sind in Brasilien gelandet, aka „DFB-Team erreicht Brasilien“. Hurra. Beides Top-Meldungen, noch vor dem Frühstück. Nicht nur bei den Ballersendern, auch in den MDR Info-Nachrichten (und bei Flux) belegt tatsächlich eine Null-Info den ersten Platz.
    Die Sendung mit der Maus fällt heute aus. Zumindest für mich, denn Ralph Caspers besucht Brasilien.
    Bis zum Abend wird auf sämtlichen Kanälen immer wieder aufs Neue mitgeteilt, dass die deutsche Mannschaft in Brasilien angekommen ist. Wie lange kann eine Ankunft dauern? Die Antwort: Einen ganzen Sonntag lang.

    Mittwoch, 10. Juni.
    Lese, dass die Bundestagsabstimmung über den Mindestlohn am 4. Juli stattfinden soll. Mein WM-Planer (!) verrät: Es ist auch der Tag das Viertelfinales. Erinnert sich noch jemand an die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent während der WM 2006?

    Wird fortgesetzt.

  • „Der Umgang mit der trockenen Materie der Nachrichten nahm sie geistig so in Anspruch, so daß sie völlig vergaß, in ihrem sonst recht lieblichen Antlitz noch einige entspannte Züge zu pflegen.“

  • Auf zur Buchmesse. Schauen, was sich getan hat. Seit dem Umzug vom Alten Markt hinaus ins Gewerbegebiet am Rande der Stadt war der Weg zum Messegelände sehr weit. In diesem Jahr fühlt sich die Reise dank Fertigstellung des City-Tunnels erstmals ungefähr so an wie der Umstieg von Windows auf Mac. Ihr fragt, ob das eine Milliarde Baukosten wert war? Oh ja, hierfür, jawoll. Vorausgesetzt, die S-Bahn fährt auch. Was nicht immer der Fall ist. Später mehr dazu.

    Bereits an der Messehaltestelle werden die ersten beschwingten Best Ager mit einer Flasche Sekt in den Händen gesichtet.
    Verwunderlich, dass später keiner von ihnen in den aufgeheizten Messehallen-Verbindungsröhren zusammenklappen wird. Im Gegensatz zum kühlen Bahntunnel bricht hier die Sonne ungehindert ein, ähnliche Temperaturen kennt der Leipziger zu dieser Jahreszeit sonst nur aus der Sauna oder dem Gondwanaland.

    Die Manga-Convention ist, das muss leider gesagt werden, zu grossen Teilen eine Verkaufsmesse für Anime-Ramsch. Trauben bilden sich an Ständen, die eingeschweisste japanische Convenience-Lebensmittel anbieten.
    Zwei kleine Messebesucherinnen, vielleicht acht Jahre alt, jede trägt ein „Free Hugs“-Schild, trotten sichtbar übel gelaunt durch die Gänge.

    Ob sich Verleger freuen, die ihren Stand gleich neben einer Crêpe-Bude einrichten durften? Wie sieht’s aus, Zeitbrücke-Verlag?

    Die ARD regiert die halbe Halle 3. Jedes Kulturradio bekommt seinen eigenen Stand spendiert, was das wohl gekostet hat? (Gut, Figaro in pissgelb – oder würdevoller: vergilbt gelb – war vielleicht nicht ganz so teuer.)

    Das öffentlich-rechtliche Battle um den imposantesten Messeauftritt gewinnt trotzdem das ZDF.

    Halle 2, die mit den Bildungsverlagen, hier sind junge Menschen in erster Linie auf der Suche nach der Mangahalle.
    Grosser Beliebtheit erfreuen sich die Glücksräder an den Ständen der Abrafaxe und der Bundesregierung. Ratterratterratter.

    In der Messebuchhandlung. Aufgestapelt liegen Bildbände mit dem „Schönsten“ aus der DDR neben Verkaufsknallern wie “Leckereien mit Löffelbiskuit“ oder “Teufelsküche – Verboten gut und höllisch scharf“. So etwas versteht der gemeine Buchhändler unter Medienpräsentation nach Interessenkreisen.

    Der Hauptverband des Österreichischen Buchhandels hat ein Kaffeehaus aufgebaut, mit echten Tassen und Gebäck. Leider, natürlich, sind alle Tische besetzt.
    Im Pressebereich kostet der Latte unschlagbare 1,50 Euro, ansonsten gibt’s ihn messeweit für 3,80.

    Hurra! An der LVZ-Autorenarena liegt die LVZ für Umme aus. Nix Drücker, nix Abo. Bravo, alte Tante!

    Jemand sagt: „Was sich hier mit den Jahren wesentlich geändert hat ist, dass die Promoter mehr Bart tragen.“

    Im Fachforum erklärt Leander Wattig den Vertretern der Generation Ü45 das Social Web. Zitat: “Wenn ich meinen PR-Artikel da reintippe, wird das in der Regel wenig Interaktion ergeben.“ Raunen in der Audience.

    Gegen 14 Uhr läuft der Reporter in seinen ersten Promi. Andreas Dresen beim Neuen Deutschland.
    Dann geht es Schlag auf Schlag: Nebenan bei der taz winkt Werner Schneyder ab, als seine Biographie runtergelesen werden soll. Und im Berliner Zimmer, da steht er, lebensgross: Roger Willemsen. Unser Mann im Bundestag.

    Der lange Marsch zurück zur S-Bahn-Haltestelle wird mit dem Ausfall der S-Bahn belohnt. „Werte Fahrgäste, aufgrund einer unvorhergesehenen Störung kann dieser Zug seine Fahrt auf unbestimmte Zeit nicht fortsetzen. Wir empfehlen Reisenden Richtung Hauptbahnhof den Umstieg in die Strassenbahn Linie 16.“
    Die Linie 16 der LVB besteht aus einer rappelvollen Waggonreihe Modell Tatar. „Gibt’s sonst nur noch in Osteuropa“, verkündet ein grauer Sachse stolz.
    Ihr fragt, ob das eine Milliarde Euro wert war?