Kategorie: Allgemein

  • Der schlimme Zustand der Landstrassen, unberechenbar und löchrig, hat uns davon absehen lassen, sofort am Abend der Maueröffnung auf unseren Motorrädern bis nach Berlin zu knattern. Die Nachtstunden des November ’89 sind in meiner Erinnerung trüb und neblig.
    Entsprechend grau und eng kam mir Westberlin später vor.

    Was waren wir neugierig! Als ich zum ersten Mal auf dem Kurfürstendamm stand, war kaum ein Durchkommen. Die Menschen reckten sich nach Hotdogs, die von Lastern herunter verteilt wurden. Alle lachten, die Westberliner winkten uns zu, wir winkten zurück. Mir war die Kauzigkeit unserer Kleidung überaus bewusst, aber egal, denn wir waren viele.
    In einem kleinen, überlaufenen Buch- und Schreibwarenladen kaufte ich mir „The Fabulous Furry Freak Brothers, Wunderwarzenschwein und andere Stories aus den Sechzigern“. Ein Klassiker. Und eine Wahl, auf die ich heute noch stolz bin.

    Vielleicht hole ich den Band heute Abend mal wieder aus dem Schrank und lese ein wenig.

  • Runterwohnen.

    „Die Gründe für den Bauboom in Leipzig“, MDR.
    Beim Ansehen des Teaserbilds noch gedacht: Treffendes Symbolfoto. Das „Autsch“ kam dann beim Runterscrollen, der Herr im Anzug ist nämlich echt.

    „Dokumentarfilm im Ersten: Wem gehört die Stadt?“, ARD-Mediathek.
    Nächtliche „Eventtouren“ für kaufwillige Investoren. Dämmen, Fenster austauschen, anschliessend hundert Prozent mehr Miete fordern.

    Jedes Haus, in dem ich bisher gewohnt habe, hat während meiner Mietzeit den Besitzer gewechselt. Jedes.
    Allerdings waren nach dem Verkauf nie Sanierung oder Mieterhöhung mein Problem, sondern das, ich nenne es mal: Runterwohnen.

    Zum Beispiel jenes Haus, das bei meinem Einzug noch zwei älteren Herren aus dem Norden gehörte. Zwei Brüdern, sie hingen an dem Gebäude, spielten schon als Kinder hier, bis die SED an ihre Türe klopfte und die Familie nach Westdeutschland auswanderte. Dann kam die Wende, die Hütte ging zurück. Sentimental wie sie waren, legten die Beiden, obwohl räumlich weit entfernt, grossen Wert darauf, dass sich ihre Mieter wohl fühlten. Im Hausflur hingen Bilder, Weihnachten gab es handgeschriebene Karten, ein allein wohnender Alkoholiker wurde als Hausmeister durchgeschliffen. Nie lagen Werbeprospekte im Dreck, Scharten waren schnell ausgebessert, Flecken fix überpinselt, das Treppenhaus stets gebohnert.

    Bis dann eines Tages eine stattliche Ansammlung weithergereister Männer in teuren Anzügen durch’s Treppenhaus schritt. Verwalter eines Immobilienfonds waren auf der Suche nach lohnendenden Anlagen in unser Viertel hinabgestiegen. Und so ging unser Haus wenig später in einer Investitionsmasse für Steuersparer auf, mit Adresse auf den Inseln.

    Unmittelbar nach dem Besitzerwechsel verlor mein Nachbar, der Alkoholiker, seinen Job als Hausmeister. Hausmeisterarbeiten erledigte fortan eine straff aufgestellte Facilityfirma. Zweimal pro Woche die Mülltonnen vors Tor rollen, Freitags den Flur wischen, ansonsten nur auf Ticket aktiv werden, mit Vorlauf von Wochen, versteht sich.
    Die bis dahin leerstehenden Gewerberäume in der ersten Etage wurden an einen Handwerkerbetrieb vermietet, dessen erste Amtshandlung (ungelogen) das Aufstellen eines riesigen Aschenbechers auf dem Innenhof war, um den sich wochentags von 7 bis 4 polternde Blaumänner scharten. Von da an glich das Haus einem Taubenschlag.

    Die Fluktuation der Mieter erhöhte sich. Grüssen wurde die Ausnahme. Schuhabdrücke an den Wänden. Werbeprospekte im Dreck. Seltsame Menschen im Hausflur. Nächtliches Fummeln an den Schlössern. Ein Wasserschaden. Der arbeitslos gewordene Alkoholiker stürzte ab und ging in seiner Wohnung zu Grunde, schlimme Geschichte.

    Als irgendwann alle die ich kannte fort waren, zog schliesslich auch ich weg.

  • Unser Service für Sie.

    „Termin zur Umstellung Ihres DSL-Anschlusses“ steht in grossen Lettern auf dem Briefumschlag, und natürlich ist das eine kleine Lüge, drinnen kein Sterbenswörtchen mehr, vonwegen Termin. Stattdessen viel Werbesprech, es locken „zukunftssichere Anschlusstechnik“, „neueste WLAN-Technik“ und, halleluja, 300 Mbit!
    Ich bin eigentlich sehr zufrieden mit meinem Anschluss, er funktioniert seit Jahren (spuckt Internet aus, wenn ich was brauche), aber nach Lektüre dieses Briefes schwant mir, dass die guten Zeiten bald vorbei sein könnten. Mein kleines Glück steht auf wackligen Füsschen, oder genauer: kommt aus dem Router geflogen, der „rechtzeitig vor der Umstellung“ ausgetauscht werden soll. „In wenigen Tagen“ schon! Mein Stündlein hat geschlagen.
    „In wenigen Tagen“, diese ominöse Zeitspanne umfasst mittlerweile vier Wochen. Passiert ist seitdem genau: nichts.
    Es spuckt weiter Internet.

    Ich bin nicht gekommen, um mich zu beschweren.

  • Während Fussballmeisterschaften geschehen seltsame Dinge.
    Einige schreibe ich mit.

    Samstag, 14. Juni.
    Facebook. „German national football team Players Podolski and Özil posing with armed paramilitary forces in #‎Brazil.“
    Kaum verwunderlich. Es wurden schliesslich nicht die größten Dichter und Denker, sondern die besten Fußballspieler nach Brasilien geschickt.

    Sonntag, 15. Juni.
    WM-Tag Vier, Facebook ist unbenutzbar geworden. Überall Fahnen und Begriffe wie „Schland“ oder „Fussie“.

    Im Pita-Laden. Ein älterer Herr in der Schlange vor mir scheint seltsam niedergeschlagen zu sein. Ungefragt klärt der Verkäufer auf: Der Alte ist Niederländer. Ich lächle verständnisvoll, ohne den geringsten Schimmer, was in dieser Situation eine angebrachte Reaktion wäre. Es geht um die WM, soviel ist klar, aber wie steht’s um die niederländische Mannschaft? Hat sie gegen die Lieblinge des Pita-Verkäufers gewonnen – oder umgekehrt? Auf wessen Seite soll ich mich stellen? Am Besten auf diejenige, die mir das Essen zubereitet.

    Montag, 16. Juni.
    Ich muss zu Fuss ein Public Viewing-Gebiet durchqueren. Kaum zu glauben, die schlimmsten Vorurteile werden bestätigt. Alle Hände hoch, Fliegerlied. Spuckefäden. Wir-sind-gekommen-um-was-zu-erleben-Gesichter.

    Dienstag, 17. Juni.
    7 Uhr 30 Uhr, die erste Meldung in den Radionachrichten lautet: „Fans feiern deutschen Auftakt-Sieg“. Ein zwölfstündiger Freudentaumel?

    17 Uhr 30 Uhr, ich habe Appetit auf Pringles. Der Discounter hat nur „WM-Editionen“ vorrätig. Samba, Chilli, Cheese, Ketchup, Flavour und wie sie alle heissen. Nun, dann heute keine Pringles für mich.

    Samstag, 21. Juni.
    Verstörter Anruf von einer Bekannten. Sie steckt in einer Umlandkneipe fest und musste erleben, wie der halbe Laden neben den Stühlen stand und die Nationalhymne mitschmetterte.

    Montag, 30. Juni.
    Im Dönerladen werde ich in ein Gespräch verwickelt. Der Mann hinter der Theke deutet mit der Zange auf seinen Kollegen: „Algerier“.
    Ich antworte: „Ah, ja!“
    „Aber ich bin für Deutsche.“
    Was soll man sagen, ohne zu lügen?
    „Der Bessere möge gewinnen.“
    Mein Gegenüber hält inne, zieht eine Braue hoch: „Wie?“
    Denk nach Guido, denk nach.

    Freitag, 4. Juli.
    Existieren eigentlich Zahlen, wie viele Verletzte es gibt, nur weil das Volk mit aller Gewalt zum Fussballgucken will? Kurz vor Sechs am Abend scheinen alle Verkehrsregeln ausser Kraft gesetzt.
    Eine gute Stunde später. Das Viertel ist menschenleer, bis auf eine handvoll Punks, die auf der Strasse Purzelbäume schlagen.

    Dienstag, 8. Juli.
    Vor dem Fenster gehen Böller hoch, soweit okay, nur heute ungewohnt früh. Katastrophengeil schalte ich zum Halbfinalspiel und sehe schmerzverzerrte Gesichter brasilianischer Fans in Grossaufnahme, während im Hintergrund ein Chor aus Deutschen brüllt: „Einer geht noch! Einer geht noch rein!“

    Wird vielleicht fortgesetzt.